Ich habe nach 19 Jahren im Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge Düsseldorf gekündigt und mich als Supervisorin selbständig gemacht. Gleichzeitig hat unsere Seminartätigkeit wieder an Fahrt aufgenommen. „Selbstfürsorge“ ist unser neuer Themenschwerpunkt. Und wir können endlich wieder in Präsenz arbeiten. Mit echten Menschen in einem Raum sein – das macht glücklich! Ebenso wie die Natur, ob beim Wildkräuter sammeln, bei der Arbeit in unserem großen Gemüsegarten oder beim Wandern im Bergischen. Und das, obwohl auch in der Natur durchaus nicht alles „heile Welt“ ist. Auch hier ist Umbruch, Wandel, Vergehen und neu entstehen angesagt. Spannende Zeiten!
Mein Jahresrückblick 2022
Ich habe im PSZ gekündigt!
Das ist die gravierendste Veränderung in diesem Jahr. Bis vor kurzem unvorstellbar. Nichts in meinem Leben habe ich so lange und intensiv getan, oder eher „gelebt“, wie die psychosoziale Arbeit mit geflüchteten Menschen. Das Psychosoziale Zentrum für Flüchtlinge Düsseldorf e.V. war stets mehr als „nur eine Arbeitsstelle“. Es bedeutete für mich Zugehörigkeit, Sinn, Herzensanliegen, Familie, Identität. Veränderungen gab es die ganze Zeit, und im PSZ war Platz genug dafür. In den 19 Jahren habe ich mich so sehr entwickeln, so vieles lernen dürfen. Nach meiner ersten therapeutischen Ausbildung habe ich dort 2003 als Praktikantin begonnen und durfte im Laufe der Jahre verschiedenste Aufgabenbereiche erkunden. Die Arbeitsstelle war so flexibel, dass ich nebenher eine ganze Reihe therapeutischer Ausbildungen machen und meine Doktorarbeit schreiben konnte. Die Aufgaben sind stets „mitgewachsen“. Bei allen Veränderungen – das PSZ war die Konstante in meinem Leben.
Also, das PSZ ist wunderbar. Aber trotz aller Verbundenheit wurde es für mich Zeit, aufzubrechen, weiter zu gehen. Immer häufiger saß ich im Home-Office an einem Bericht oder Antrag und musste mich geradezu zwingen, weiterzumachen, sozusagen „gegen die Energie ankämpfen“. Mein Widerwillen gegen bestimmte bürokratische Zumutungen – die niemand aus dem PSZ selbst zu verantworten hat – wurde immer größer. Also wurde immer klarer: es ist Zeit für eine Veränderung. Im Januar war es dann soweit: nach reiflicher Überlegung habe ich zum 30.04. gekündigt.
Ich habe mich als Supervisorin selbständig gemacht
Eigentlich hatte ich nie vor, mich selbständig zu machen. Aber da es keinen anderen Arbeitsgeber gab, zu dem es mich hinzog, war Selbständigkeit die naheliegende Alternative. Ich bin ja schon länger als Supervisorin aktiv. Zunächst nur in geringem Umfang nebenberuflich, aber immer sehr gerne.
Supervision erfüllt mich mit Leidenschaft, wenn Menschen gestärkt daraus hervorgehen, wenn Spannungen oder Konflikte sich lösen, wenn gemeinsam Antworten gefunden werden, die Verbundenheit wieder spürbar wird, die Energien wieder in den Fluss kommen. Fachkräfte im psychosozialen Bereich – also Menschen, die sich den diversen Abgründen unserer Gesellschaft stellen, Leid und Ungerechtigkeit aushalten, den Mangel surfen, brauchen die bestmögliche Unterstützung. Das liegt mir am Herzen!
Nun also habe ich die Supervision zu meinem Hauptberuf gemacht. Das ist aufregend! Und es fühlt sich gut an! Am Respekt vor der Aufgabe und den immer wieder neuen Prozessen hat sich nichts geändert, aber es ist die Wertschätzung der Selbständigkeit dazu gekommen. Es ist wunderbar, frei über meine eigene Zeit zu verfügen, nur noch für meine eigene Finanzplanung verantwortlich zu sein, mir so viel Urlaub zu genehmigen, wie ich möchte… Auswertung der ersten 7,5 Monate: Selbständigkeit fühlt sich vielversprechend an!
Seminare geben in Präsenz: Prozesse begleiten, Wissen vermitteln, mit echten Menschen in einem Raum sein – das macht glücklich!
Mit Corona kam unsere Seminartätigkeit 2020 fast gänzlich zum Erliegen und sie hat erst dieses Jahr wieder an Fahrt aufgenommen. Jetzt aber so richtig!
Ab dem Frühjahr 2022 kam einiges zusammen: auf der einen Seite die Aufhebung der Corona-Schutzmaßnahmen, auf der anderen Seite ein hoher Fortbildungsbedarf – sowohl im (leider weiterhin hoch aktuellen) Themenfeld „traumasensibler Umgang mit geflüchteten Menschen“ als auch zu „Selbstfürsorge“ für engagierte Fachkräfte und Ehrenamtliche, oder auch zu verwandten Themen wie „Stabilität schaffen in der Krise“.
So waren wir 2022 endlich wieder bundesweit mit Seminaren unterwegs, vor allem mit Inhouse-Schulungen für verschiedene Einrichtungen und Bildungsträger. Immer wieder neue Menschen, unterschiedliche Gruppen, und es ist wunderschön zu erleben, welche Intensität, Nähe, welche Prozesse in den Stunden oder Tagen der gemeinsamen Arbeit entstehen. Besonders berührt hat mich dieses Jahr zum Beispiel eine Selbstfürsorge-Schulung für die Mitarbeiter*innen des alternativen Bestattungsinstituts „Trostwerk“ in Hamburg. Die ständige Konfrontation mit der Endlichkeit des Lebens scheint zwangsläufig zu einer besonderen Tiefe und Achtung des Moments zu führen. Sehr beeindruckend. Auf der Rückfahrt, am Ende eines Seminares, sage ich oft zu Ernest: „Ich bin so glücklich und dankbar über unseren Beruf!“ Das habe ich 2022 besonders gespürt.
Lehraufträge – der Flirt mit der Hochschule
Seit 2022 haben Ernest und ich auch zwei Lehraufträge. Es ist schön, einen kleinen Bezug zur Hochschule wieder aufzunehmen.
Während und nach meiner Doktorarbeit hatte ich mit dem Gedanken geliebäugelt, Professorin an einer Fachhochschule für Soziale Arbeit zu werden. Wenn ich heute miterlebe, wie unfassbar viele Überstunden meine klugen und fleißigen Freundinnen leisten, die diesen Weg gegangen sind, bin ich froh, dass ich mich damals dagegen entschieden habe. Umso dankbarer bin ich, dass ich nun doch noch eine Form gefunden habe, Studierende zu begleiten. Für die „Europäische Fernhochschule Hamburg“ hatte ich schon 2021 gemeinsam mit Ernest ein Studienheft zum Thema „Selbstfürsorge und Schutz vor eigenen Belastungen im Kontext Sozialer Arbeit“ geschrieben. Seit 2022 geben wir nun regelmäßig ein 2-tägiges Blockseminar für angehende Sozialarbeiter*innen, abwechselnd online oder in Präsenz in Hamburg. Die Studierenden sind meist schon länger berufstätig und wollen oft noch die formale Qualifikation und die theoretische Unterfütterung ihres praktischen Wissens nachholen. Sie kurz vor dem Abschluss ihres Studiums bei der Reflexion ihrer „Professionellen Berufsidentität“ – so das Seminarthema – herauszufordern und zu unterstützen, ist tatsächlich sehr inspirierend und erfüllend.
Als weiteren regelmäßigen Auftraggeber haben wir die Ostschweizer Fachhochschule in St. Gallen gewonnen, wo wir im Zertifikatskurs Traumapädagogik das Seminar zu „Sekundärtraumatisierung und Burnout“ übernehmen. Klingt zwar unspaßig, hat aber wirklich Spaß gemacht. Das liegt wahrscheinlich auch an den fitten Teilnehmer*innen und daran, dass wir nicht nur die Dynamik und Symptomatik der Belastungen besprechen, sondern vor allem Präventionsstrategien. Es ist schön, nun regelmäßig auch in der Schweiz im Einsatz zu sein. Nicht nur, weil es auf halber Strecke nach Italien liegt.
La seconda casa in Italia
Unsere „zweite Heimat“. Vor neun Jahren habe ich die Wohnung meines Vaters in San Venerio, einem Dorf oberhalb der Hafenstadt La Spezia geerbt. Und je öfter ich dort war, desto mehr liebe ich die Gegend. Vieles hat sich verändert, seit meine Großeltern vor fast 40 Jahren aus Sizilien dorthin gezogen sind. In meiner Jugend waren die weltberühmten Cinque Terre, direkt neben La Spezia, noch ein „Geheimtipp“, wo wir am Strand wild gezeltet haben. Heute ist es dort selbst im Herbst bei Regen so überfüllt von Touristen aus aller Welt, dass der einstige Charme kaum noch zu erahnen ist. Aber Ligurien und die angrenzende Toskana bieten so viel mehr, so viele Städte und Dörfer, bezaubernde Landschaften, Berge und Meer zu entdecken. Und genauso wie die immer wieder neuen Entdeckungen genießen wir das Gefühl von Alltag und Vertrautheit, das sich einstellt, wenn wir immer wieder dort sind.
Drei Mal waren wir 2022 dort, und diese Bilder geben vielleicht einen Eindruck des Zaubers.
Natur als Kraftquelle – von Wildkräutern, Wandern und Selbstversorgung aus dem Garten
Wann immer es möglich war, sind wir in 2022 in die Natur eingetaucht. Fast immer, wenn wir einen ganzen oder halben Tag frei hatten, sind wir gewandert, bei (fast) jedem Wetter, und haben unendlich viele schöne, verzauberte Strecken und Gegenden in der unmittelbaren und etwas weiteren Umgebung entdeckt.
Die Natur selbst ist im Umbruch. Hier im Bergischen gab es viele große Fichtenwälder. Als wir hergezogen sind, haben sie mir nicht besonders gefallen, zu sehr Mono-Kultur, zu dunkel. Mit den Jahren habe ich sie richtig lieb gewonnen, die großen „Hallen“, die Räume, die die Bäume zwischen Himmel und Erde aufspannen, mit einem dicken, grünen Moosteppich darunter.
Jetzt sind fast alle Fichtenwälder hier verschwunden, innerhalb kürzester Zeit sind die meisten Fichten krank geworden und gestorben oder gefällt worden. Mit ihnen ist das Moos gegangen, das den Schutz der Bäume brauchte. „Apokalyptisch“ ist ein Wort, was mir häufig in den Sinn kam auf unseren Wanderungen.
Aber irgendwann in diesem Sommer stellten wir fest, dass es auf den gefällten Flächen blüht und gedeiht, dass unendlich viele Kräuter wachsen, Gräser, Blumen. Die Landschaft ändert sich und die „offenen Wunden“, die durch die gestorbenen Wälder entstanden sind, heilen langsam.
Was uns sehr geholfen hat, zu erkennen, was dort alles Zauberhaftes wächst, war unsere Wildkräuter-Jahresgruppe „die Wilde 13“ von Bianca McGuire. Über das Jahr hinweg haben wir gelernt, Wildkräuter zu bestimmen und anzuwenden und dabei immer tiefer in die Magie der Natur einzutauchen. Und noch nie haben wir die Natur so üppig erlebt wie in 2022. Wie oft haben wir uns auf Wanderungen sattgegessen an Himbeeren, Wildkirschen, Brombeeren, Pflaumen, Äpfeln, Birnen! Und Kräuter gesammelt für Tees und Tinkturen.
Auch der Garten war noch nie so üppig. Wir haben dem alten Gewächshaus ein neues Dach und neue Erde gegönnt, was zu einer nie gekannten Tomatenschwemme geführt hat. Seit dem Sommer versorgen wir uns mit frisch geernteten oder eingekochten Bio-Gemüse, Kartoffeln und Salat. Da kann nichts Gekauftes mithalten, und mit den Händen in der Erde wühlen ist ein wunderbarer Ausgleich für alle „kopfigen“ Tätigkeiten. Also: Garten macht glücklich!
Mein Jahr 2022 in Zahlen
- 35 Fortbildungen habe ich in 2022 gegeben (im Vergleich zu 12 in 2021 und 8 in 2020)
- 468 Teilnehmer*innen haben wir erreicht (schätzungsweise)
- 2 Artikel habe ich geschrieben. Besonders freut mich mein Kapitel zu „Reflexion und Selbstfürsorge“ im Lehrbuch transkulturelle Traumapädagogik, aber auch das Kapitel „Wie gemeinsame Forschung Wissen schafft“ mit den Kooperationspartnerinnen eines kleinen Forschungsprojekts war ein schöner, kooperativer Prozess! Vor allem war es schön, mal wieder war zu schreiben und zu merken, wie gerne ich das tue!
- 312 Tage habe ich mit Yoga begonnen (auf der Basis der Schätzung, dass ich es an 6 von 7 Morgen geschafft habe).
- 936 km sind wir gewandert (auf der Basis der Schätzung, dass wir durchschnittlich drei Mal in der Woche durchschnittlich 6 km gelaufen sind. Wahrscheinlich war es mehr.)
- 52 Vorratsgläser habe ich eingekocht, 32 mit Tomatensauce, 12 mit Apfelmus, 4 mit Rotkohl und 4 mit Bohnen. Diese Art von „Fastfood aus dem Garten“ gönne ich mir gerne.
Und was steht an in 2023?
Gerne weiter so! Weiter möglichst viel in Präsenz arbeiten, weiter mit Seminaren unterwegs sein, weiter neue Orte und Menschen kennen lernen. Weiter zum Thema Trauma und Selbstfürsorge arbeiten. Und weiter möglichst viel Zeit draußen in der Natur verbringen.
Und: das Rad dreht sich weiter. Es fühlt sich nicht so an, als seien wir mit dem Umbruch schon fertig. Ich bin gespannt, was sich im neuen Jahr entwickeln will.